Der Durst der Beeinträchtigten nach Urteilsfähigkeit
Der Durst der Beeinträchtigten nach Urteilsfähigkeit
Es ist nicht sicher, dass die Information, die der Öffentlichkeit gegeben wird, über den Mord einer kleinen jüdischen Oma, die Mitten in Paris in dem Schweigen und der Untätigkeit der Umgebung aus dem Fenster geworfen wurde, und dann die Information über den Freispruch des Schuldigen, irgendjemanden erlaubt, seine Urteilsfähigkeit auszuüben. So können wir nun alle in den Genuss eines Ablasses kommen, und wir, die Richter inbegriffen, sind also von jeglicher, zumindest moralischer, Verantwortung befreit, und das in einer Affäre, deren Ursache einfach eine Lücke in der Gesetzgebung gewesen wäre – die schnellstens zu reparierende ist, nich! Was sonst tun gute Kerle.
Lässt meine beeinträchtige Urteilsfähigkeit mir überhaupt noch die Möglichkeit zwei Bemerkungen zu machen?
Die erste, dass der Terminus „Urteilsfähigkeit“ ganz besonders ungeeignet ist, um über das Engagement eines Subjekts in einer Schuldtat Rechenschaft abzulegen. In unserem Fall zum Beispiel, konnte der Mörder perfekt den Referenztext beurteilen, der ihm seine Aktion zeigte, und anstatt ihn konfus zu machten, hat der Cannabis ganz im Gegenteil dazu beigetragen, seine üblichen Hemmungen aufzuheben. Das Toxikum hat sein Verhalten und seine Urteilskraft weder beeinträchtigt noch verändert, sondern es hat sie verherrlicht, seine Urteilsfähigkeit erhaben gemacht.
Die zweite Bemerkung hingegen, ist von einem gewissen Entsetzen gekennzeichnet. Anlässlich eines Gesetzesentwurfs zur Kontrolle der Ausübung der Psychotherapien, war ich damals, naiv, verblüfft über die vollkommene Widersprüchlichkeit zwischen der Realität dessen, was auf dem Spiel stand und der Information, die der Öffentlichkeit darüber gegeben wurde, die ja eigentlich geschützt werden sollte. Dieses Mal, obwohl es sich um etwas ganz anderes handelt, ist es beeindruckend zu sehen, wie eine Gemeinschaft sich in dem Konsens einer untereinander geteilten Lüge organisiert. Und, was noch schwerwiegender erscheinen mag, dies nicht ganz einfach einfältig in Bezug auf einen traditionellen Antisemitismus, sondern in der Art der spontanen Unterwerfung, die schon jetzt die folgenden Etappen dieser Affäre zu regulieren scheint.
Ist es Bürgerpflicht zu schweigen, oder ist es eine Pflicht dem zu widersprechen?
Charles Melman
30. April 2021
P.S. Wie man sieht, übergehe ich hier die Tatsache, dass, wenn die Macht der Urteilsfähigkeit uns vom Anderen kommt, wir alle Beeinträchtigte der Urteilsfähigkeit sind, ja sogar dieser Fähigkeit enthoben, wenn es um ideologische oder religiöse Radikalismen geht.
Traduction faite par Johanna Vennemann